Über 70 Jahre Grundgesetz − Kompass in Vergangenheit und Zukunft
Ein Rückblick auf seine bisherige „Lebensleistung“ als Garant der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gibt allen Anlass, ihm zu diesem Jubiläum zu gratulieren und der Weitsicht und Klugheit seiner „Mütter und Väter“ zu gedenken.
Von Dr. Josef Christ
Als Antwort auf die Schrecken des Nationalsozialismus etablierten sie einen breiten Grundrechtekatalog und eine international anschlussfähige, wehrhafte, der Rechts- und Sozialstaatlichkeit verpflichtete Demokratie mit föderaler Grundstruktur.
Das BVerfG hat diese Grundaussagen weiter akzentuiert. So hat es die Grundrechte als Rahmen fruchtbar gemacht, in dem sich die Bürger in Freiheit und Verantwortlichkeit entfalten können. Der runde Geburtstag gibt Anlass zu fragen, wo Nachjustierungen notwendig werden könnten, um das Errungene zu bewahren und zukunftsfähig fortzuentwickeln.
Neue Fragestellungen, neue Herausforderungen
Es ist absehbar, dass die Digitalisierung aller Lebensbereiche die Verfassungsinterpretation vor Herausforderungen stellen wird. Um nur einige denkbare Fragestellungen zu benennen: Welchen Bindungen unterliegen neu entstandene Machtstrukturen von Internetunternehmen? Wie können die Anforderungen des Datenschutzes gewahrt werden, ohne dass auf den Einsatz der digitalen Hilfsmittel verzichtet werden muss, die zur Bekämpfung der gerade auch wegen der Digitalisierung neuartigen Bedrohungen durch Kriminalität und Terrorismus gebraucht werden?
Wie sind etwa im Lichte des Schutzes der Meinungsfreiheit als einem für ein freiheitliches demokratisches Gemeinwesen konstituierenden Grundrecht in „sozialen Netzwerken“ stattfindende Debatten zu bewerten, wenn sie ausschließlich auf die Sicht bestimmter Gruppen und Identitäten fixiert sind und wegen ihrer Manipulationsanfälligkeit und Anonymität eine gewisse Verantwortungslosigkeit und Verrohung in den öffentlichen Meinungskampf hineintragen?
Prophetische Weitsicht
Auch vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen hat das BVerfG im jüngsten Urteil zum Rundfunkbeitrag die besondere Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für eine faktenbasierte und die Vielfalt der Meinungen respektierende Berichterstattung hervorgehoben. Das in der Verfassung von Anfang an enthaltene Konzept „offener Staatlichkeit“ mit dem klaren Bekenntnis zu einem vereinten Europa zeugt im Rückblick von geradezu prophetischer Weitsicht.
Dringlicher als früher stellt sich mittlerweile jedoch die Frage nach den Grenzen einer fortschreitenden Ausdehnung des Europarechts vor allem dort, wo der nach dem Subsidiaritätsprinzip vorausgesetzte Mehrwert einer Aufgabenwahrnehmung auf der europäischen Ebene nicht mehr erkennbar ist. Es ist bemerkenswert, dass die neuere Rechtsprechung des EGMR durch eine konsequente Anwendung der „margin of appreciation-Doktrin“ einen Kontrapunkt gegen Unitarisierungstendenzen setzt.
In die entgegengesetzte Richtung weist hingegen eine Vorlage des BAG an den Gerichtshof der Europäischen Union, wo unter anderem danach gefragt wird, ob im Anwendungsbereich der Richtlinie zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf der nationale verfassungsrechtliche Schutz der Religionsfreiheit noch Anwendung finden darf.
Kompass in Krisenlagen
Schon diese wenigen Spannungsfelder verdeutlichen, dass der 70. Geburtstag für das Grundgesetz und seine Interpreten kein Grund zur Altersruhe sein darf.
Die Verfassung hat sich in der Vergangenheit als Stabilitätsanker und Kompass in Krisenlagen bewährt und war zugleich stets flexibel und entwicklungsoffen genug, um neue Problemstellungen bewältigen zu können. Damit ist die Grundlage gelegt, um mit derselben Zuversicht voranzugehen, die die „Mütter und Väter“ des Grundgesetzes in ungleich schwierigerer Lage angetrieben hat. Neben dem Jubiläum ist das der eigentliche Grund zur Freude.
Hinweis: Der Text ist in der NVwZ 10/2019 erschienen.
Der Autor
Dr. Josef Christ
Richter des Bundesverfassungsgerichts und Mitherausgeber der Fachzeitschrift Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht